Der Pianist Daniil Trifonov geniesst es, wenn die Werke, die er spielt, von ihm Besitz ergreifen – dann fühlt er sich wie «mit einer höheren Realität verbunden». Diesen Sommer ist der Ausnahmekünstler «artiste étoile» am Lucerne Festival.
Wolfgang Stähr
4 min
Mitunter ist das Paradies nur einen Knochenbruch weit entfernt. Daniil Trifonov war dreizehn Jahre alt und auf dem Weg zum Klavierunterricht, als er an einem Wintertag auf der vereisten Strasse ausrutschte, hinschlug und sich einen Arm brach. Wochenlang musste er das beschränkte Leben mit einem Gipsverband ertragen, eine entsetzliche Zeit. Aber er begriff, was ihm fehlte und was er sich mehr als alles andere auf der Welt wünschte: das Klavierspiel. «Die Glücksgefühle, die ich empfand, als mir der Gips wieder abgenommen wurde, sind mir unvergesslich. Zwei Wochen später trat ich schon im Konzert auf.»
Daniil Trifonov, als Sohn einer Musikwissenschafterin und eines Komponisten 1991 in Nischni Nowgorod geboren, in Moskau und Cleveland ausgebildet, wird spätestens seit dem Jahr 2011, als er sowohl die Arthur-Rubinstein-Competition in Tel Aviv als auch den Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau gewann, mit Klavierlegenden in einem Atemzug genannt. Selbst Martha Argerich, eine dieser Legenden, bestaunte das «dämonische Element» in seinem Spiel und erklärte rundheraus, dergleichen «nie zuvor gehört» zu haben.
Argerich steht mit dieser Einschätzung bis heute nicht allein. Betritt Trifonov das Podium oder verbeugt er sich im Schlussapplaus, erscheint er wie der sympathische und höfliche junge Mann von nebenan. Doch sobald er am Klavier sitzt, zu spielen beginnt, ins Feuer gerät oder in eine Art Trance versinkt, wirkt er wie ein Medium, wie ein Geisterseher, mit leuchtenden Augen, verklärtem Lächeln, in eine andere Welt entrückt, die offenbar entschieden besser gelungen ist als die hiesige.
«Einer höheren Realität verbunden»
«Wenn Sie sich ganz auf die Musik konzentrieren», verrät Trifonov, «wenn Sie versuchen, so weit in sie einzudringen, dass Sie nichts mehr um sich herum wahrnehmen, dann ergreifen die Werke, die Sie spielen, von Ihnen Besitz, und es werden erstaunliche physische und psychische Möglichkeiten freigesetzt. Es scheint, als ob wir dann mit einer höheren Realität verbunden seien.» Diese spezielle Kunst einer transzendentalen Virtuosität wird in Luzern gleich bei drei Auftritten zu erleben sein: Daniil Trifonov, der in der Musik den Sternen nahekommt, ist nämlich «artiste étoile» des Sommerprogramms.
Am 20.August bestreitet er eine Solo-Matinee, deren Programm andere Pianisten das Fürchten lehren würde. Zwar beginnt er, scheinbar harmlos, mit Tschaikowskys «Kinderalbum», einer Sammlung poetischer, hintersinniger Klavierminiaturen, aber dann! Im Anschluss meistert er Schumanns C-Dur- und Mozarts c-Moll-Fantasie, die ekstatische 5.Sonate des Visionärs Aleksandr Skrjabin und obendrein, als gäbe es weder manuelle noch mentale Grenzen, Maurice Ravels «Gaspard de la nuit»: Schauerstücke der schwarzen Romantik und pianistische Exzesse, mit deren ausufernden Schwierigkeiten Ravel noch die «unspielbaren» Werke von Liszt überbieten wollte. Trifonov ist eben ein Meister, der sich in der Entgrenzung, nicht in der Beschränkung zeigt.
Das unterstreicht auch die musikhistorische Weite und Vielfalt seines Repertoires. Als ihn die Musikerinnen und Musiker des Lucerne Festival Orchestra zur gemeinsamen Kammermusik einluden, war er ohne Zögern mit allen Programmvorschlägen einverstanden. Er ist halt ein Pianist der unbegrenzten Möglichkeiten, weshalb er nun mit ihnen am 18.August das technisch anspruchsvolle Klavierquintett von Brahms und Schuberts «Forellenquintett» darbieten wird. Existiert denn überhaupt Musik, die er gar nicht ausstehen kann? «Es gibt Myriaden solcher Beispiele», gesteht Trifonov, «aber fast keines davon kommt aus dem Bereich der klassischen Musik.»
Plädoyer für Rachmaninow
In Luzern ist Trifonov auch als Konzertsolist zu erleben. Mit dem Mahler Chamber Orchestra und Daniel Harding spielt er am 23.August Robert Schumanns versonnenes, verwegenes Alles-in-einem-Klavierkonzert in a-Moll, das die Dämonie ebenso verlangt wie den Kontakt mit der «höheren Realität». Eigentlich war sogar noch ein weiterer Konzertauftritt geplant: Zusammen mit dem Festivalorchester und Riccardo Chailly wollte Trifonov sein «liebstes» Rachmaninow-Konzert zur Aufführung bringen: nicht das süffige zweite, auch nicht «RachIII», sondern das weithin unterschätzte vierte. Der Auftritt musste jedoch aus organisatorischen Gründen um eine Saison verschoben werden. Stattdessen spielt nun die italienische Pianistin Beatrice Rana am 16.August die Paganini-Rhapsodie, ein Hauptwerk aus Rachmaninows Luzerner Jahren in Hertenstein.
Gerade bei den späten Werken Rachmaninows, zu denen sowohl die Paganini-Rhapsodie wie auch das 4.Klavierkonzert gehören, kann Trifonov regelrecht ins Schwärmen geraten. Man höre da, «wie Rachmaninow nach einer neuen Sprache sucht und sich vorwärtsentwickelt. Man spürt den Einfluss neuer Begegnungen: Ravel, Jazz, Gershwins ‹Rhapsody in Blue›, die Rachmaninow bewunderte.» Konsequent verteidigt Trifonov den Komponisten gegen Spötter und Skeptiker: «Seine Musik ist äusserst ernsthaft. Was mich am meisten ärgert, ist, dass sie als Hollywood-Musik geschmäht wird. Das ist eine geschichtlich erworbene Fehlwahrnehmung seiner Musik, weil sie so oft im Kino verwendet worden ist. Wenn wir uns von diesem Filmmusik-Klischee freimachen und die Musik aus sich selbst und ihrer Herkunft heraus begreifen, dann ist sie eine tiefreligiöse Musik.»
Woraus sich fast wie von selbst die Frage ableitet, ob Musik zum Glauben, zur Wahrheit, zum Guten führen, ob sie den Menschen zum Besseren umformen könne – sozusagen «back to paradise»? Daniil Trifonov gibt eine so einfache wie menschenfreundliche Antwort: «Die wichtigste Wirkung der Musik möchte ich folgendermassen auf den Punkt bringen: Musik verbindet.»
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