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Kritik – Daniil Trifonov in SalzburgErzählerische Superkräfte
28.07.2023 von Walter Weidringer
Daniil Trifonov gibt den ersten Klavierabend der Salzburger Festspiele 2023 – und erntet Standing Ovations für ein Programm von Charakterstücken und fantasieartig freien Formen von Schumann und Tschaikowski bis Ravel und Skrjabin. Nur mit Mozart ist das so eine Sache.
Bildquelle: © SF/Marco Borrelli
Man kann natürlich beim fabelhaften Techniker Daniil Trifonov anfangen, bei den Bravourstücken am Ende des offiziellen Programms dieses ersten Klavierabends im Rahmen der Salzburger Festspiele 2023. Ein Pianist, der sich in Maurice Ravels berüchtigtem Triptychon "Gaspard de la nuit" in ein Ein-Mann-Orchester der tausend Farben und Düfte verwandeln kann. Ein Pianist, der Alexander Skrjabins Klaviersonate Nr. 5 Fis Dur op. 53 in ihrer ganzen hochnervösen Fahrigkeit, ihren eruptiven Aufwallungen und poetischen Abwegen trotzdem wie aus einem Guss darzustellen weiß: Ein solcher Pianist hat rein manuell nichts zu fürchten. Schlicht famos, wie unter Trifonovs Händen bei Ravel sich noch das winzigste Gekräusel zu weiten Arabesken formte ("Ondine"), wie der hundertfach wiederholte, immer wieder aufs Neue zart pulsierende Ton B den seidenen Faden bildete, auf dem das ganze Stück "Le Gibet" aufgefädelt ist – und wie zuletzt in "Scarbo" die schier endlosen Tonrepetitionen präzise und zugleich enorm leicht kommen und sich zu verschlungenen Linien auswachsen, die die ganze Klaviatur zu überwuchern scheinen.
Daniil Trifonov: der Geschichtenerzähler
Aber eigentlich muss man vom Geschichtenerzähler Daniil Trifonov schwärmen. Der ist es nämlich, der einen so richtig fesselt bei diesem Programm der freien Formen, gebildet vornehmlich aus Charakterstücken und Fantasien – denn andernfalls bliebe das Ganze nur hochvirtuose Schaumschlägerei. So aber vernahm man in "Gaspard de la nuit" sprudelnde Wellen, hatte das gespenstische Schaukeln des Gehängten im Wind vor Augen und durfte schließlich glauben, einem entfesselten Kobold bei seinem teuflischen Schabernack zuzusehen.
Die Salzburger Festspiele 2023 bei BR-KLASSIK
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Tschaikowskis "Kinderalbum" in schillernden Farben
Der Komponist Peter Tschaikowsky | Bildquelle: United Archives/TopFoto/Süddeutsche Zeitung PhotoIm vermeintlich Kleinen, Einfachen hatte Trifonov diese Kräfte schon eingangs erprobt und wirken lassen. Peter Iljitsch Tschaikowskis "Kinderalbum" op. 39 ist ein Pendant zu Schumanns "Kinderszenen", in Tschaikowskis Fall geschrieben für den geliebten Neffen "Bob", Wladimir Dawidow, den damals 7-jährigen, schon Klavier spielenden Sohn seiner Schwester Alexandra, der auch sein Erbe werden sollte. Eine Sammlung von 24 Charakterstücken mit programmatischen Titeln hat ihm der Onkel zum Geschenk gemacht – vielleicht für kindliche Finger zu bewältigen, aber erst mit Herz und Hirn eines Erwachsenen voll zu erfassen. Minder berufene Interpreten könnten vielleicht sentimental überzuckerte Petit Fours daraus machen – oder sie bedeutungsschwanger aufblasen. Trifonov hingegen trifft ihren Tonfall traumwandlerisch auf einem goldenen Mittelweg, der so etwas wie eine kluge, frühreife Naivität vermittelt. Bei so viel spontaner Musizierlust kann man sich kaum satthören an Petitessen wie dem hübsch galoppierenden "Pferdchenspiel", dem lärmend Harmonika spielenden Bauern, einem im Walzertakt singenden Leierkastenmann. Oder an den betrübten Klängen für die "Krankheit der Puppe", worauf ein Trauermarsch zu deren "Begräbnis" ruft, aber sogleich in kindlichem Stimmungsumschwung ein "Walzer" folgt – und in japsender Aufregung "Die neue Puppe" begrüßt wird . . .
Melancholische Zwischentöne bei Schumann
Danach Robert Schumanns C-Dur-Fantasie op. 17, gar nicht auf vordergründige Brillanz getrimmt, sondern in eher gedeckten Farben, auch im Triumphmarsch des zweiten Satzes rasch wieder grüblerisch und introvertiert, mit viel Sinn für die melancholischen Zwischentöne dieser merkwürdigen, dreisätzigen Beethoven-Hommage, die den langsamen Satz bedeutungsvoll aus der Mitte ans Ende rückt.
Mozart bleibt eher ein Versuch
Ein Weilchen gab es Mozart hier wie dort: Während sich der neue "Figaro" unter Leitung von Raphaël Pichon und inszeniert von Martin Kušej im Haus für Mozart in die letzte Kurve legte, begann Daniil Trifonov die zweite Hälfte dieses Solistenkonzerts im Großen Festspielhaus mit der c-Moll-Fantasie KV 475. Klar, etwas streng, ohne Romantizismen ertönte dieser Mozart – aber bei allen Nuancen auf engem Raum auch fast etwas zu vorsichtig, leisetretend. Die ersten Ausflüge der russischen Klavierschule in die Nähe historisch informierter Aufführungspraxis? Das ist lobenswert – aber vorläufig noch ein Versuch.
Standing Ovations für Trifonov
Wohler fühlt sich Trifonov jedenfalls in jenem Repertoire, in dem er sich voll verausgaben kann, schwitzend, stöhnend, ächzend – ein Totaleinsatz, der sich nie als Pose vor die Musik schiebt sondern immer im Dienste der Sache bleibt. Dazu ließ er diesmal das Jackett gleich in der Garderobe und kam im schon vorab etwas zerknitterten, für entsprechende Bewegungsfreiheit übergroßen weißen Hemd mit schmaler schwarzer Krawatte. Wer in Hemdsärmeln spielt, muss das aber noch lange nicht hemdsärmelig tun. Schon nach dem letzten Ton der Skrjabin-Sonate sprangen viele im Publikum zu spontanen Standing Ovations auf. Zwei Zugaben als Dank für den allgemeinen Jubel waren die Folge: Sergej Rachmaninovs es-Moll-Prélude op. 23/9 und seine berühmte "Vocalise" op. 34/14.
Sendung: "Allegro" am 28. Juli 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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